Von Kulturellen Gemeinsamkeiten und dem Schweizer Kantönligeist

Das Thema Interkulturalität, Diversifikation und Fremd-Sein ist gerade auch ob der aktuellen Flüchtlingswelle aus dem Osten omnipräsent in den Medien und in der Gesellschaft. Es wird am Stammtisch, an Familienanlässen und in der Rauchpause bei der Arbeit über totalitäre Regimes, über Flüchtlingskontingente, andere Kulturen und Sitten und den damit verbundenen Herausforderungen rege diskutiert. Viele grosse Zeitungen veröffentlichen Interviews mit Flüchtlingen, in welchen diese über die täglichen Herausforderungen in einer anderen Kultur, in einem anderen Land und unter schwierigsten Umständen berichten. Es kommen Schweizer:innen zu Wort, die Flüchtlinge aufgenommen haben und solche, die dies nicht möchten. In diesen Artikeln wird oft über die Schwierigkeiten berichtet, welche mit den imminenten globalen gesellschaftlichen Veränderungen einhergehen. Die Andersartigkeit in Kultur, Sprache und Sitten wird hervorgehoben, Gemeinsamkeiten werden zwar erwähnt und diskutiert, oft liegt der Fokus jedoch auf dem „Anders“, den Unterschieden.

Diese Thematik kennen wir Schweizer auch intranational. Der sogenannte „Kantönligeist“, der gerade im Kontext der Situation der letzten zwei Jahre immer wieder aufgegriffen wurde, sei es als föderalistisch-demokratisches Wunderkonzept oder als dysfunktionales politisches Mangelkonstrukt, ist wie der Name sagt, geisterhaft. Wie ein Phantom steht er an den Kantonsgrenzen und erklärt nebelhaft einerseits die kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Kantonen, andererseits steht er sinnbildlich für die Sturheit der einzelnen kantonalen Organe im Zusammenspiel als Bundesstaat Schweiz. Er steht für „[…]ein auf den einzelnen Kanton ausgerichtetes Denken und Handeln beziehungsweise für den kantonalen Partikularismus.“ und verfügt dadurch auch über eine überwiegend negative Konnotation.

Anstatt nun aus dem Prinzip des Partikularismus aus einer staatspolitischen Perspektive an das Thema Kantönligeist heranzugehen, scheint ein kulturrelativistischer Ansatz sinnvoller, nach welchem pauschale und übergeordnete Verallgemeinerungen bei der Betrachtung (eines Sachverhalts) nicht zweckdienlich sind. Genau diese Pauschalisierungen und Verallgemeinerungen führen zu den Gräben zwischen den Kantonen, welche sich zuweilen öffnen. Dabei ist klar, dass der grundsätzliche Prozess der Stereotypisierung und Klischeeisierung von Menschen und Gruppen, in unserem Fall von Kantonen und den Menschen, die in diesen Leben, einem fundamentalen Bedürfnis des Menschen entspringen, das Fremde einzuordnen, um eine Risikoabwägung zu machen. Ist mir etwas fremd, versuche ich dieses bestenfalls zu verstehen, schlechtesten falls zu eliminieren, im Normalfall aber sicher einzuschätzen. Dabei orientiere ich mich an bisherigen ähnlichen Erfahrungen, Hörensagen, am optischen und sprachlichen Ausdruck, am Auftreten und Aussehen einer Person. Selbstverständlich sind diese Prozesse weder Erklärung noch Entschuldigung für Stereotypisierung oder gar Rassendiskriminierung von Menschen – denn wir selbst sind zuständig dafür, wie viel Raum wir diesen Mechanismen geben, wie wir diese einordnen und wie reflektiert wir uns in diesem Bereich bewegen.

Es fällt uns gemeinhin einfacher, triviale Erklärungen und Bilder anzunehmen, da diese nicht den Anspruch einer Auseinandersetzung mit sich bringen, sondern einfache und klare Argumente der Meinungsbildung transportieren. Innere Bilder, die wir mittragen, können dazu beitragen, diese Erklärungen zu bestärken. Das Reflektieren dieser, die Konfrontation und das Infragestellen der eigenen Prozesse von Meinungsbildung und Erklärung der Welt ist ein anstrengendes Business - aber ein profitables. Wären wir alle offener und vorurteilsloser, wäre die Welt sicher ein besserer Ort. Doch auch der persönliche Vorteil eines interessierten und stereotypenlosgelösteren Verhaltens ist evident – wer mit offenen Augen und Armen in die Welt geht, wird oft mit Erfahrungen belohnt, welche verschlossenen und vorsichtigen Menschen tendenziell verwehrt bleiben.

Dieses Bedürfnis des „Einordnens“ eines Gegenübers, das kennen wir alle. Nach der äusserlichen Überprüfung, zu welchem Auftreten, Sprache, Kleidung und Aussehen gehören, ist eine der ersten Fragen beim Kennenlernen schnell und gerne die Frage nach der beruflichen Tätigkeit. Es gibt uns die Möglichkeit einer ersten Kategorisierung eines möglichen Grundcharakters der Gesprächspartner:in.

Der Prozess der unterbewussten Einordnung in Raster vorhandener Bilder und Erfahrungen passiert und ist auch normal – die Frage dabei ist, wie stark wir uns mit unserem eigenen Raster und Bildern bereits auseinandergesetzt haben. Was passiert in mir, wenn ich eine Person treffe, die im Banking-Sektor arbeitet? Welche inneren Bilder konnotiere ich mit Menschen, die Anzug tragen? Welche Erfahrungen werden getriggert, wenn ich das Wort „Flüchtling „höre? Wenn ich eine Person mit anderer Hautfarbe sehe? Oder auf welche Stereotypen greife ich zurück, wenn ich einer Walliser:in oder einer Berner:in begegne?

Die kulturellen Zuordnungen zwischen den Kantonen in der Schweiz sind nicht nur negativ. Der grundsätzliche Mechano der Pauschalisierung kann dies jedoch sehr fest sein. Der Eindruck, dass sich Menschen aus dem Wallis vor allem von Raclette ernähren und Berner:innen alle langsam sind (dies sind natürlich eigene, überzogene Bilder von mir) kommt ja nicht von irgendwoher. Wie überall existieren kulturelle Gegebenheiten, in welchen sich nicht nur die Kantone, sondern auch die Gemeinden und die einzelnen Dörfer voneinander unterscheiden.

Vor Kurzem habe ich in Zürich eine neue Arbeitsstelle angetreten und kurz darauf auch meinen Wohnsitz von Bern in die Stadt Zürich gewechselt, ein tränenreicher Abschied von einer Stadt, die im Berner Volksmund niemand gerne verlässt. Was sich in erster Linie anfühlt wie ein Abenteuer, der Umzug vom Dorf in die Grossstadt, entpuppt sich als unaufgeregter Ortswechsel 58 Zugminuten in den Nordosten des gleichen Landes.

Ich stelle fest, dass ich in den wenigen Monaten, welche ich nun in Zürich arbeite und wohne, ein Bewusstsein zu meiner Herkunft gebildet habe, welches vorher komplett absent war. Das Berner-Sein war für mich vorher absolute Normalität, in Bern habe ich höchst selten Menschen getroffen, die mich klar als Berner identifiziert, meinen Dialekt kommentiert und mir Gemütlichkeit, wenn nicht sogar Langsamkeit unterstellt haben. Die Identifikation und Auseinandersetzung mit meinen Berner Wurzeln, den damit verbundenen Eigenschaften und auch den geläufigen Stereotypen hat durch den Wechsel nach Zürich eine neue Dimension erreicht.

Im Beispiel meiner eigenen Erfahrung fällt mir immer wieder auf, wie schnell ich in Zürich als Berner identifiziert werde – natürlich aufgrund des auffälligen und einfach zuordbaren Dialekts. Dabei zeigt sich, dass es in der Auffassung einer Mehrheit offenbar eine Kategorisierung von „schönen“ und „unschönen“ Schweizer Dialekten gibt, in welcher der bernische eher in der oberen Liga mitzuspielen scheint.

Ein erster Blick auf die Gemeinsamkeiten, in meinem Fall auf diese zwischen Bern und Zürich, bringt zutage was irgendwie auch offensichtlich ist; es gibt Unterschiede, die Ähnlichkeiten überwiegen aber, zumindest aus meiner Perspektive. Nun ist es eben gerade eine Perspektivenfrage, welchen Faktoren mehr Priorität zugesprochen wird; den verbindenden oder den unterscheidenden.

Um der Frage nachzugehen, ob denn das Empfinden der Unterschiede zwischen den Kantonen eher ins Positive oder ins Negative tendiert, habe ich mich auf die Strassen in Bern und Zürich begeben und Menschen zu ihrer Meinung zum Kantönligeist und kantonsabhängigen Zuschreibungen befragt.

Es entstand ein breites Meinungsbild an Antworten, Wahrnehmungen und Bildern, welches nachvollziehbarerweise vor allem eines bestätigt – die Konfrontation mit den Stereotypen wird vor allem dann Thema, wenn Menschen in Bewegung sind.

Das Thema hat für viele Befragte im Alltag wenig Relevanz, solange sie sich in ihrem gewohnten Umfeld bewegen. Aussage ist dabei oft, dass die kantonale Stereotypisierung mehr eine humoristische Angelegenheit ist und weniger eine Problemzone schafft. Gerade in Bern und Zürich wurde eher zum Thema, dass die Identifikation weniger den Kanton und mehr die Stadt betrifft – also die Stadt- und nicht die Kantonsgrenzen mehr Gewicht zu haben scheinen. Spannend dabei ist, dass der in den letzten Jahren öfters auch politisch heraufbeschworene und bei Abstimmungen gerne gezeichnete Stadt-Land-Graben bei der Befragung eher thematisiert wurde als die Kantonsgrenzen. Darin variiert sichtbar das Empfinden zwischen den verschiedenen Generationen, Altersklassen und sozialen Hintergründen. Während von Jugendlichen und jungen Erwachsenen das Thema Kantonsgrenzen eher mit Fussball und Ausgang und damit auch mit Stadtkultur verbunden wird, sehen sich viele Befragte aus dem höheren Alterssegment mit dem Thema wenig konfrontiert. Natürlich sind die geläufigen Zuschreibungen bekannt, werden jedoch als nicht alltagsrelevant bezeichnet.

Was dabei natürlich auffällt ist, dass Menschen, welche in andere Kantone umgezogen sind in der Befragung eine höhere Sensibilität zum Thema ausgewiesen haben. Alltagsrelevanz gewinnt das Kantönlidenken offenbar erst dann wirklich, wenn wir uns in „fremde“ Kantone begeben und mit dem sogenannten „Anderssein“ konfrontiert werden. Es scheint aber, als sei dies zu einem grossen Teil eher Schalk als ernst gemeinte Ablehnung. Dabei spielen weiter zwei Faktoren massgebend eine Rolle; erstens die Frage:

  1. Haben wir uns selbst mit den eigenen Bildern und Zuschreibungen auseinandergesetzt und überprüfen diese regelmässig?

  2. Wie reagieren wir darauf, wenn wir mit Stereotypen konfrontiert werden?

An dieser Stelle sollten wir uns immer wieder fragen: Wie gehe ich mit Fremdem um? Wo bin ich selbst fremd und was macht dies mit mir? Und dabei den Fokus nicht auf die Unterschiede und die Differenzen, sondern möglichst auf die Gemeinsamkeiten legen. Denn fragen wir Schweizer:innen nach dem Kantönligeist, ist man sich zumindest in einem Punkt einig: schlussendlich sind wir alle in erster Linie Menschen.

Zurück
Zurück

Vogelhaus bauen

Weiter
Weiter

Schmuck selber erstellen