Freies Schreiben
Wer erinnert sich nicht an die Diktate in der Schule, die zumindest bei mir normalerweise mit so vielen roten Strichen zurück zum Absender gekommen sind, dass ich im ersten Moment dachte, der Lehrer habe beim Korrekturlesen Nasenbluten gehabt. Jedes falsch gesetzte Komma, jeder überhörte Satzpunkt und jedes kleingeschriebene Nomen wurde gut sichtbar markiert, um zu einem grotesken, ruhmlosen und picassoesken Gemälde zu werden. Dieses Kunstwerk musste ich dann, wie Jesus beim Gang zum Kreuz, zu Hause meinen Eltern zur Unterschrift präsentieren. Damit die Haupterziehungsinstanz über das sprachlich-grammatikalische Versagen, meine Unfähigkeit in der Übersetzung vom Gehörten ins Geschriebene und generell über meine Flughöhe in schulischen Belangen, welche mehr einer Bauchlandung mit Totalschaden als einem Alpenflug glich, informiert war.
Es war paradox. Ich war bereits in der Primarschule ein begeisterter Leser. Ich las zu Beginn vor allem Comics, was ich heute noch gerne mache, begeisterte mich aber immer wie mehr für Jugendliteratur. Wolfgang Hohlbein, J.K. Rowling, J.R.R. Tolkien waren die Dealer für meine einstiegs-Lesedrogen, die Fantasyromane. Mit dem Lesen funktionierte es gut, ich hing auch in der Sekundarschule in meiner Freizeit gerne am Büchertropf. Doch das Schreiben wurde mir, in der Terrorgestalt von Diktaten und Aufsätzen, zur Qual. Dass die Lehrer weit entfernt davon waren, uns im Bereich des Lesens und Schreibens einen lustvollen Zugang erschaffen zu wollen, merkte ich daran, dass wir Bücher wie «Odysseus» oder «Der Bader Meinhof Komplex» lesen und zusammenfassen mussten. Nichts gegen Homer oder Stefan Aust, als Erwachsener kann ich den beiden Büchern viel abgewinnen. Aber als Jugendlicher interessierte ich mich weder für die Metaphorologie der griechischen Sagenwelt noch für die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge zwischen Bombenattentaten in Deutschland und südamerikanischen Diktaturen. Lieber wollte ich mir vorstellen, wie es wäre, wenn ich auserwählt wäre an eine Zauberschule zu gehen, anstatt mich als höchstens durchschnittliches Mitglied vom gemeinen Pöbel identifizieren zu müssen. Oder mir in meiner Fantasie ausmalen, wie ich meiner Familie und meinen Freunden als Legende in Erinnerung bleibe, die unter schrecklichen Entbehrungen den einen Ring in den Schicksalsberg geworfen hat. Der einzige schicksalshafte Berg, welchen es zu überwinden gab, war jedoch jener der Strafarbeiten, der mir aufgrund meiner miserablen Leistungen im Deutschunterricht und der nicht so subtilen Kritik am Literaturgeschmack unseres Lehrers aufgetragen wurde.
Ich bin freilich nicht das einzige Opfer der Diktatur des Diktats im Bildungskontext. Das Verfassen von Texten begegnet uns im Alltag oft in formeller Hinsicht – Die selbstständige Vertiefungsarbeit in der Lehre, das Verfassen von Leistungsnachweisen und schriftlichen Arbeiten im Studium und das lange, seelenlose und sinnbefreite Eintippen von zusammenhängenden Wörtern im Arbeitskontext vor dem Bildschirm im Büro. Doch welch kreatives Potenzial steckt im kreativen Schreiben! Darin, Gedanken und Emotionen, Fantasien und Erinnerungen niederzuschreiben, zur Selbstheilung, zur Selbstoffenbarung, um anderen einen Einblick in unsere Innenwelt zu erlauben oder die Aussenwelt zu beschreiben.
Freies Schreiben, ohne konkretes Ziel in Bezug auf Verlauf und Inhalt, das aus den Fingern fliessen lassen von Buchstaben und Wörtern, ohne es in eine Struktur bringen zu müssen, als freier Ausdruck des kreativen Schaffens ist, zumindest für mich, vergleichbar mit dem Kuss einer Muse, dem Eintauchen in die Parallelwelt der Wörter und Gedanken und dem Abtauchen in eine sich selbst kreierenden Surrealität in den tiefen meines Geistes.
Freies Schreiben kann Jeder und Jede. Es gibt kein Richtig und Falsch, einzig individueller Ausdruck. Grammatik, Sprache und Wortkonstellation sind irrelevant. Mit dieser Methode kann dem Bildungstrauma, welches das Schreiben als lustvoller Ausdruck von Kreativität und Innenleben eingeschränkt und geschädigt hat, begegnet werden.
Bei durchstart führen wir mindestens einmal in der Woche eine Sequenz des «freien Schreibens» durch und laden dabei die Teilnehmenden ein, entweder mit einem zufälligen Satzeinstieg oder auch nach eigener Fantasie in das Schreiben eines Textes einzusteigen. Jeder Teilnehmende nimmt sich eine halbe Stunde Zeit, um frei einen oder mehrere Texte zu schreiben. Im Anschluss sitzen wir in einer Runde zusammen, wer will, darf seinen Text vorlesen. Dies bietet auch jeweils eine gute Möglichkeit, an den eigenen Auftrittskompetenzen zu arbeiten.